29. August 2017
Das nicht gegebene Interview zum «Diesel-Skandal»

Daniel Deimling
Kategorie: Nachhaltigkeit, Unternehmensethik

 

 

Von Daniel Deimling

Eine Redakteurin des ZDF schickte mir eine Interview-Anfrage zum Diesel-Skandal für die Sendung heute+ inklusive der Fragen. Ich sagte zu, überlegte mir, was ich antworten würde, machte ein paar Notizen, dann wurde das Interview aus Zeitgründen abgesagt. Die Fragen sollten dennoch nicht unbeantwortet bleiben.

Natürlich ist der Diesel-Skandal kein Einzelfall

Im Jahre 2015 schrieb ich einen Blog-Beitrag zum (damals noch) «VW-Abgasskandal», in dem ich folgende These aufstellte:

«Gesetze interessieren Unternehmen, deren Ziel die Profitmaximierung ist, nur unter Rentabilitätsgesichtspunkten. Sie werden eingehalten, wenn dies langfristig profitabler erscheint, als sie zu brechen. Wenn der Profit durch das Nicht-Einhalten von Gesetzen langfristig höher ist als im Falle der Gesetzestreue, werden Gesetze systematisch gebrochen. Der eigentliche Skandal an dieser Geschichte ist die mediale Skandalisierung der bekannt gewordenen Gesetzesbrüche, die suggeriert, dass es sich um Einzelfälle handle und damit verschleiert, dass ein ökonomisches System, dessen Grundlogik die profitable Verwertung von Kapital ist, zwangsläufig unmoralisches Verhalten hervorbringt.» 

Damit meinte ich nicht, dass VW kein Einzelfall in der Automobilbranche ist, wie mittlerweile bekannt ist, sondern dass VW kein Einzelfall in der kapitalorientierten Marktwirtschaft ist. Die von Ralph Nader gegründete Zeitschrift Multinational Monitor veröffentlichte erstmalig Ende der neunziger Jahre eine Liste mit den 100 kriminellsten Konzernen der Welt, bemessen an der Geldstrafe, die die Konzerne für ihre Gesetzesverstöße zahlen mussten (nachzulesen hier). Mittlerweile finden sich eine ganze Reihe solcher Listen, die eindrücklich veranschaulichen, dass Gesetzesverstöße von rein profitorientierten Unternehmen die Regel sind, nicht die Ausnahme. Der «corporate governance adviser» Robert AG Monk sagt dazu:

«Viele Firmen machen ihre Gesetzestreue von den Kosten abhängig. Sie wägen ab, ob gegen das Gesetz zu verstoßen billiger ist, als es zu beachten. Für sie ist es eine rein wirtschaftliche Entscheidung.» (nachzusehen hier ab Minute 37:00)

Woher kommt es, dass sowohl Gesetztestreue als auch moralisches Handeln von ihrer Rentabilität abhängig gemacht werden? Aus einer die Profitmaximierung legitimierenden Theorie. Dem Standardwerk der BWL (Günter Wöhe) ist zu entnehmen, dass die «Gewinnmaximierung als oberstes Unternehmensziel anzusehen ist.» (Dies unterstützt auch Ulrich Döring, der die Fortführung des mehr als 1,5 Millionen mal verkauften «Wöhe» seit der einiger Zeit besorgt: Das «Prinzip langfristiger Gewinnmaximierung» ist eine «Handlungsmaxime, die das Wöhe-Lehrbuch wie ein roter Faden durchzieht».) Wenn der maximale Gewinn das oberste Ziel von Unternehmen ist und Gesetzesbrüche langfristig gewinnversprechend sind, müssen Gesetze ignoriert werden. Unternehmen, die zur Vorteilsgewinnung lügen, manipulieren, Sicherheitsvorschriften umgehen, usw. entsprechen betriebswirtschaftlicher Lehrbuch-Logik. Moral wird von ihrer Rentabilität abhängig gemacht und nicht unternehmerischer Erfolg von der moralischen Verantwortbarkeit der Geschäfte. Die massenmediale Suggestion, dass es sich bei den deutschen Autobauern um Einzelfälle handle, kaschiert den eigentlichen Skandal und zementiert damit die in den Grundlagen der kapitalorientierten Ökonomie angelegte Amoralität.

Das Interview

Die vorangegangen Ausführungen sollen dazu dienen, die folgenden Antworten besser in den übergeordneten Kontext einordnen zu können. Die Fragen sind unverändert übernommen.

1) Gesundheit vor Eigentum – Was kostet uns das?

 

Die Frage ist natürlich falsch gestellt. Sie muss lauten: Eigentum vor Gesundheit – was kostet uns das? Achim Brunnengräber und Tobias Haas schreiben in der Juni-Ausgabe der Blätter für deutsche und internationale Politik, dass einer Hochrechnung zufolge im Jahre 2015 in der EU 11400 Menschen wegen nicht eingehaltener Abgaswerte bei Dieselfahrzeugen vorzeitig verstorben sind (vgl. Blätter für deutsche und internationale Politik, 06/2017, S. 22). Die Abgase kosten uns aber nicht nur unsere Gesundheit respektive unser Leben, sondern auch Geld für die Behandlungskosten der Betroffenen. Die manipulierten Abgaswerte belasten unsere Gesundheitssysteme.

Das Science Media Center Germany veröffentlichte im Januar 2017 ein Factsheet (zu finden hier), in dem erklärt wird, wie die bestehenden Grenzwerte (unter anderem) für Feinstaub festgelegt und begründet werden. Darin ist auch zu lesen, dass es nach Schätzungen im Jahre 2016 in 41 europäischen Ländern zu 467.000 vorzeitigen Todesfällen wegen PM2.5-Exposition kam, davon 73.400 in Deutschland (PM ist die englische Abkürzung für «particulate matter» (Feinstaub), 2.5 steht für Feinstaub mit einer Partikelgröße von maximal 2,5 μm). Die negativen gesundheitlichen Wirkungen von Feinstaub setzen nicht erst oberhalb bestehender Grenzwerte ein, sondern es wird von einer linearen Dosis-Wirkung-Beziehung ausgegangen. «Experten gehen davon aus, dass es kein Level gibt, unterhalb dem kein gesundheitlicher Effekt von Feinstaub mehr nachweisbar wäre» (Factsheet des Science Media Center Germany, S.3). Auch unterhalb der festgelegten Grenzwerte sind Gesundheitseffekte messbar, Feinstaub ist in jeder noch so geringen Konzentration ein Risiko. Die Grenzwerte sind Ergebnis eines politischen Abwägungsprozesses: gesundheitliche Verbesserungen versus Machbarkeit und Kosten der zu ergreifenden Maßnahmen (vgl. ebd., S.4). Wir müssen endlich eine grundsätzliche Debatte darüber führen, was uns unsere Mobilität als Gesellschaft kostet. Man muss die ganzheitlichen Kosten solcher Dinge betrachten.

Nehmen wir als Beispiel die Atomkraft. Diese galt jahrelang als günstige Energiequelle – jetzt sehen Sie sich einmal an, welche Kosten durch die Entsorgung des radioaktiven Abfalls, die Lagerung der Brennstäbe und die Suche nach geeigneten Atom-Endlagern entstehen. Diese Kosten tragen nur zu einem geringen Teil die Konzerne, den Hauptteil schultert die Gesellschaft. Diese Kosten müssten bei einer realistischen Betrachtung berücksichtigt werden. Auf Ihre ursprüngliche Frage möchte ich wie folgt antworten: Wir müssen Wohlstand anders definieren. Wohlstand ist nicht nur Güterwohlstand, sondern auch gesunde Luft, fruchtbare Böden, sauberes Wasser. In China haben viele Eltern mittlerweile eine App auf dem Smartphone in der sie sehen können, ob ihre Kinder gerade ohne Mundschutz auf die Straße gehen können oder (aufgrund des Smogs) nicht. Was ist das für ein Wohlstandverständnis? Fast jeder besitzt ein Auto, aber wir können nicht mehr ohne Mundschutz vor die Tür gehen.

2) Wir wollen ein tolles, schnelles und im Unterhalt günstiges Auto fahren, aber auch gesund leben. Wenn beides nicht geht, was dann?

Wer ist «Wir»? In deutschen Großstädten, beispielsweise in Stuttgart, machen nur noch 10 Prozent der Volljährigen einen Auto-Führerschein (nachzulesen unter anderem hier). Die Attraktivität des Automobils nimmt ab, sowohl als Mobilitätsmittel als auch als Statussymbol. In Städten wie Stuttgart, Berlin, Hamburg, München braucht man kein Auto, um mobil zu sein. Zudem gibt es immer mehr Menschen, die aus ökologischer Überzeugung kein Auto mehr besitzen. Es gibt das von Ihnen unterstellte «Wir» nicht. Wer wiederum einen großen SUV fährt, will sicherlich nicht ein «im Unterhalt günstiges Auto fahren». Der Porsche Cayenne Diesel S und der Audi SQ7 4.0 TDI Quattro wiegen deutlich über zwei Tonnen und haben einen Testverbrauch von über 10 Litern Diesel (nachzulesen hier). Die Gesundheit der Allgemeinheit kann einem nicht sonderlich am Herzen liegen, wenn man solche Autos fährt. Wenn beides nicht geht, wie in Ihrer Frage formuliert, dann müssen wir selbstverständlich Mobilität anders organisieren. Der motorisierte Individualverkehr ist ein Relikt aus dem letzten Jahrhundert. Wir müssen auf neue Mobilitätskonzepte setzen und den ÖPNV ausbauen.

Es ist volkswirtschaftlich betrachtet völliger Irrsinn, dass jeder ein Automobil besitzt. Im Durchschnitt steht ein Fahrzeug 95 Prozent der Zeit – in Stunden ausgedrückt steht ein Pkw also 23 Stunden am Tag im öffentlichen Raum oder auf privaten Grundstücken (nachzulesen hier). In jedem Automobil ist menschliche Arbeitskraft gebunden, in jedem Automobil ist Kapital gebunden, es wurden zu seiner Herstellung zahllose Ressourcen und Materialien verbraucht und verarbeitet – und dann steht das Ergebnis dieses enormen Aufwandes 23 Stunden am Tag nur herum. Das ist grotesk. Wir verschwenden als Gesellschaft im großen Maßstab Arbeit, Kapital, Ressourcen.

3) Wenn wir die Städte sauber halten wollen, geht das nur mit Zwang (Fahrverboten, Strafen etc.)?

Fahrverbote sind eine legitime Möglichkeit. Man kann das Autofahren aber auch durch die Infrastruktur regulieren. Städte wie Konstanz, Freiburg oder Münster machen es den Menschen sehr einfach, das Fahrrad dem Automobil vorzuziehen, durch Fahrradstraßen, Fahrradstellplätze, E-Bike-Ladestationen, usw. Wir müssen es den Menschen durch geeignete Strukturen generell leichtmachen, das Fahrrad oder den ÖPNV zu nutzen. Wenn es in den Innenstädten keine Parkplätze mehr gibt, dafür aber eine Innenstadt-Maut, einen gut ausgebauten ÖPNV und viele Fahrradstraßen, ist es einfach nur vernünftig, auf das Automobil zu verzichten. Für Notfälle gibt es Car-Sharing.

Wer jede Regulierung mit Zwang gleichsetzt, denkt wohl marktlibertär. Selbstverständlich basiert auch der moderne demokratische Rechtsstaat auf «legitimer physischer Gewaltsamkeit» als seinem «spezifischen» und, so wäre wohl hinzuzufügen, letzten «Mittel», wie Max Weber (1919, S. 397) treffend festhielt. Dies gilt auch mit Blick auf das Steuerrecht. Doch ist es nicht etwa eine dritte Macht, die «uns» hier zu etwas zwänge, sondern wir, die Bürger eines demokratisch verfassten politischen Gemeinwesens sind es mindestens der Idee nach, die wir uns selbst (vermittels des politischen Prozesses, also weitgehend delegativ) Regeln, die wir uns selbst in Freiheit gegeben haben, unterwerfen, weil wir wissen, dass wir als je individuell Handelnde sonst hoffnungslos überfordert wären (vgl. auch hier). Insofern hätte die Frage auch lauten können: «Wenn wir die Städte sauber halten wollen, geht das auch ohne Regulierung?» Und nun ließe sich fragen: Wird damit auf die je individuelle Einsicht als verantwortungsvoller Bürger, Konsument oder Produzent abgestellt unter Abstraktion aller Markt- und Wettbewerbszwänge? Oder just auf diese bzw. auf den «freien Markt»?

4) Welche Schuld trägt vielleicht auch der Verbraucher selbst, der lieber in Verbrennungsmotoren statt in E-Mobilität investiert?

Der Verbraucher macht, a) woran er gewöhnt ist, b) was mit wenig Aufwand verbunden ist und c) was gesellschaftlich Standard ist. Die Einbettung des individuellen Konsumverhaltens in sozio-kulturelle Kontexte wird in der Debatte komplett übersehen. «Konsum lässt sich nicht als individuelles Wahlverhalten begreifen», schreibt der Umweltsoziologe Karl Werner Brand (in: Lange, Hellmuth (2008), Nachhaltigkeit als radikaler Wandel, Wiesbaden, S.88). Konsum ist in der Regel keine individuelle Wahlhandlung, sondern weist typische soziale Muster auf. Individuelles Konsumverhalten ist stark durch das soziale Umfeld und gesellschaftliche Strukturen geprägt. Die Hoffnung auf den mündigen Verbraucher als Motor nachhaltigen Konsums ist deshalb utopisch. Der individuelle Ausstieg ist aufgrund der sozio-kulturellen Erwartungen extrem schwer und gesellschaftlich nicht attraktiv. Erst wenn der sozio-kulturelle Charakter der Konsummuster ins Blickfeld gerät, zeigen sich die Ansatzpunkte für einen Wandel des Konsums. Deshalb erfordert eine nachhaltige Veränderung von Konsummustern einen Mix verschiedener politischer Strategien und Steuerungsinstrumente.

Die Umweltverhaltensforschung hat in zahlreichen Studien belegt, dass das Wissen über ökologische Zusammenhänge in der Regel nicht zu Verhaltensänderungen führt, sich aber erheblich auf die Akzeptanz staatlicher Regulierung auswirkt (vgl. Bogun, Roland (2008), Nachhaltigkeitsdiskurs, Umwelt- und Risikobewusstsein: Ansatzpunkte für ein nachhaltig(er)es Konsumentenverhalten?, in: Lange, Hellmuth, a.a.O., S.141). Wenn die Menschen um die negativen Umweltauswirkungen der Automobile wissen, steigt die Akzeptanz für Fahrverbote und andere Beschränkungen, die einer Regulierung zum Zwecke der Förderung ökologischer Nachhaltigkeit dienen. Und die die Bürger dann als Ausdruck ihrer eigenen politischen Überzeugungen und Wünsche begreifen, denen sie als je Einzelne kaum mit Aussicht auf Erfolg nachkommen können. Schauen Sie sich den Atomausstieg an. Die große Empörung und der große Widerstand aus der Bevölkerung blieben selbstverständlich aus. Wer vermisst schon Atomkraftwerke? Empört waren nur die Energie-Konzerne. Der demokratische Rechtsstaat, der unser Instrument ist, muss in unseren Konsum eingreifen. Das hat er auch schon oft getan: Vermissen Sie verbleites Benzin, Asbest, FCKW? Natürlich nicht. Ein Großteil der informierten Bevölkerung stört sich kein bisschen an staatlichen Eingriffen, auch wenn die BILD-Zeitung das gerne herbeischreiben möchte.

5) Und: Wenn wir den Diesel als Technologie abschreiben, was bedeutet das für unsere Wirtschaft?

Wir müssen Ökonomie langfristig denken. Die Wirtschaft hat sich immer verändert, es sind immer wieder ganze Branchen verschwunden und neue Branchen entstanden. Ein Beispiel: Bis zur so genannten Gründerkrise im Jahre 1873 war die Eisenbahnindustrie eine riesige Wachstumsbranche. Der Ausbau des Eisenbahnnetzes erforderte über Jahrzehnte hinweg eine Vielzahl von Beschäftigten und es wurden riesige Investitionen getätigt, sowohl in der Eisenindustrie als auch im Maschinenbau und allen anderen beteiligten Branchen. Als sich das Wachstum der Eisenbahnindustrie mit der Gründerkrise deutlich verlangsamte, kam es zu einer Strukturkrise der gesamten Branche. Branchen steigen auf und Branchen verschwinden wieder: «Wir hatten den Bergbau, die Stahlindustrie, wir haben sie jahrzehntelang mit Milliarden gepäppelt und – es ist vorbei» (der Volkswirt Klaus Zimmermann im Gespräch mit dem Spiegel; vgl. Ehlers, Fiona et al., Der Crash-Test, in Der Spiegel, 34/2009, S.45-54).

Ich sage es in aller Klarheit: Es ist langfristig gesehen nicht schlimm, wenn die Automobilindustrie verschwindet. Wahrscheinlich wird dadurch der Bedarf an Erwerbsarbeit vermindert, aber das ist gut so. Erwerbsarbeit in der industriellen Produktion ist ja kein Selbstzweck. Wenn das gesellschaftliche Bedürfnis nach Mobilität mit einem geringeren gesellschaftlichen Arbeitsvolumen befriedigt werden kann, können wir uns darüber freuen. Schlagen Sie ein x-beliebiges VWL-Lehrbuch auf: Da steht: Das Ziel der Volkswirtschaft ist die gesellschaftliche Bedürfnisbefriedigung mit dem geringsten Mitteleinsatz. Die gesellschaftliche Bedürfnisbefriedigung mit dem geringstmöglichen Arbeitseinsatz zu erfüllen, ist das Ziel der Volkswirtschaft. Die dadurch entstehenden sozialen Disparitäten müssen auf anderer Ebene behoben werden: durch eine Umverteilung von Erwerbsarbeit und Einkommen. Jeder braucht ein würdiges Auskommen. Wir brauchen eine andere Primärverteilung und eine andere Sekundärverteilung. Dann lässt sich auch eine 20-Stunden-Woche denken. Wessen Horizont heute eine 20-Stunden-Woche übersteigt, hätte sich im Jahre 1850, als die durchschnittliche Wochenarbeitszeit in Deutschland bei 85 Stunden lag (vgl. beispielsweise Poppelreuter Stefan (1997), Arbeitssucht, S.18), eine 40-Stunden-Woche sicher auch nicht vorstellen können. Wir müssen uns endlich davon verabschieden, dass unsere Ökonomie ewig so bleiben muss, wie sie gerade ist.