17. Februar 2012
Die Gehirnwäsche muss endlich ein Ende haben

Ulrich Thielemann
Kategorie: Ökonomismus, Orientierungen

Wirtschaftsethiker weisen die Exkulpation des Uni-Ökonomen zurück

 

Vorbemerkung

Dieser Beitrag, den Tanja und ich gemeinsam als Replik auf Rüdiger Bachmann dem Spiegel anbieten wollten, ist dort seeehr lange liegengeblieben. Man muss da offenbar von vorn herein hart intervenieren, um überhaupt beachtet zu werden. Nun erhielt ich von der Wirtschaftsredaktion, bei der er schließlich landete, eine Absage, da dort offenbar genau die Position vertreten wird, die wir hier zurückweisen. – Den einigermaßen reißerische Titel, der auf den Spiegel zugeschnitten war, haben wir belassen.

Die Gehirnwäsche muss endlich ein Ende haben

Von Ulrich Thielemann und Tanja von Egan-Krieger

Die VWL ist spätestens seit dem Ausbruch der Weltfinanzkrise 2008 selbst in einer Dauerkrise. Allerdings rumort es im Inneren allenfalls ein ganz klein wenig. Die Kritik kommt vor allem von außen. Etwa von Studenten, die während der Vorlesung des VWL-Lehrbuchstars Mankiw den Raum verlassen. Durch die Queen, die einfach mal fragte, warum die versammelte Mannschaft der VWL-Profs die Finanzkrise nicht kommen sah. Nach einem Jahr erhielt sie als Antwort, die Ereignisse hätten «die Vorstellungskraft vieler kluger Leute» überstiegen. Dass sich die «neoklassische Harmonielehre des Marktes an den kapitalistischen Krisenerscheinungen vollständig blamiert hat», hält der Mathematiker Claus Peter Ortlieb treffend fest. Auch hierzulande äußern Studenten Unmut. Statt Substantielles und Erhellendes zur anhaltenden Weltfinanzkrise zu erfahren, müssten sie neoklassische Standardmodelle büffeln, in denen der angeblich «rationale» Homo oeconomicus gepredigt wird.

Der in den USA akademisch sozialisierte Volkswirt Rüdiger Bachmann, der sich bereits im 2009er «Methodenstreit» für eine VWL der Zahlen und Formeln statt der Worte ausgesprochen hat, hält diese Kritik für ganz und gar unbegründet. Er sieht keinerlei Dogmatismus innerhalb der VWL: Es gebe nicht etwa eine «Phalanx marktgläubiger Professoren», die entgegenstehende Meinungen unterdrückte, jedenfalls keine, die «fruchtbar» sein könnten, findet Bachmann. Vielmehr sei die «moderne VWL» ein «dynamisches, offenes und flexibles Wissenssystem».

Um allerdings professionell mitreden und akademisch ernst genommen werden zu können, müsse man schon die «Sprache» der «modernen VWL» verstehen. Und da deren Sprache die der Mathematik sei, müsse man das «mathematische Handwerkszeug» beherrschen. Dass es innerhalb der VWL keine «methodischen Grabenkämpfe» mehr gebe – und erst recht keine seriösen Auseinandersetzungen mehr über die Grundlagen des Fachs, wie ohne Polemik zu formulieren wäre –, dies liegt Bachmanns Suggestionen zufolge nicht etwa daran, dass andere Sichtweisen systematisch ausgeschlossen wurden, sondern daran, dass diese «Sprache» die einzige sei, die den Standards der VWL als einer Wissenschaft genüge. Die Kritik an der Ausrichtung des Fachs könne folglich nur daher rühren, dass die Kritiker – genannt werden «Praktiker, Ethiker und unterdrückte Privatdozenten» – wissenschaftliche Laien oder bestenfalls «VWL-Anfänger» seien. Und ebenso wie Mediziner erst dann auf Patienten losgelassen werden, wenn sie das medizinische «Handwerkszeug» beherrschen, müssten auch die VWL-Studenten erst einmal «die Vokabeln lernen», um zur Welt der Wirtschaft fundiert Stellung nehmen und als Wirtschaftsprofis agieren zu können. 

Die normative Botschaft versteckt sich hinter Formelsammlungen

Die angeblich so neutrale und offene «Sprache aller Ökonomen» ist allerdings alles andere als neutral. Dies erkennen auch die Studenten des Arbeitskreises real world economics, die den Diffamierungsversuch des Fachökonomen ganz zu Recht als «unerhört» zurückweisen. Das angeblich neutrale «Rüstzeug» sei nämlich mit «Werten durchsetzt». Genau so verhält es sich. Denn abgesehen davon, dass sich ohne Ethik weder über «Krisen» noch darüber, wie sie «am besten» (für wen «am besten»?) bewältigt werden können, schlechterdings nicht sprechen lässt, gibt die Standard-VWL den Studenten zahlreiche Botschaften darüber mit auf den Weg, wie man die Dinge richtigerweise zu beurteilen, mit welchen Augen man die Welt richtigerweise zu sehen und wie man richtigerweise zu handeln habe. Nur versteckt sich die ethische Botschaft hinter den Formelsammlungen, als die sich volkswirtschaftliche Publikationen heute darstellen, und zwar vor allem dann, wenn sie in den Top-Journals abgedruckt werden möchten.

Diese verborgene, aber falsche Ethik lässt sich an zwei Begriffen festmachen, nämlich am Begriff der «Rationalität» und der «Effizienz». Dass es sich hierbei um zentrale Schlüsselbegriffe der Standard-VWL handelt, dürfte auch Prof. Bachmann so sehen. Allerdings wird er vermutlich die Ansicht ablehnen, dass es sich hierbei um normative bzw. ethische Begriffe handelt. Aber das ist doch eigentlich sonnenklar. Schließlich sollen die Leute «rational» und nicht etwa «irrational» handeln. Und die Wirtschaft soll «effizient» und nicht etwa «ineffizient» funktionieren.

Gier ist «rational»

Der VWL ist es gelungen, den Rationalitätsbegriff zu okkupieren. «Rational» bzw. vernünftig ist nun nicht mehr das, was sich mit guten, verallgemeinerungsfähigen Gründen rechtfertigen lässt, sondern was dem eigenen Vorteil dient. Dafür steht der Name Homo oeconomicus, der, wie der Name zeigt, die Zunft der Ökonomik im Ganzen repräsentiert. Was der Volksmund Gier nennt, nennen Ökonomen «Rationalität». Zwar meint der Zweig der Verhaltensökonomik empirisch gezeigt zu haben, dass die Menschen nicht allesamt egoistische Nutzenmaximierer seien. Doch tut dies dem Rationalitätsverständnis der VWL keinen Abbruch. Ganz im Gegenteil: Dass die Menschen häufig «irrational» handeln, bietet doch gerade wunderbare Möglichkeiten für ein «rationales» Marketing oder für welche Steuerungs- und Beeinflussungsversuche auch immer. Oder «Moral» wird als «Präferenz» (S. 132 ff.) kategorisiert im Sinne einer «neuen, erweiterter Nutzenfunktion» . So einfach, meinen offenbar etwa Akerlof/Kranton, läßt sich das ökonomistische Paradigma retten. 

«Vernünftig ist, was rentiert» – diese von Max Frisch sarkastisch auf den Punkt gebrachte ökonomistische Grundbotschaft verstehen die Absolventen des wirtschaftswissenschaftlichen Studiums nur zu gut, jedenfalls diejenigen, die sich gegen diese ökonomistische «Gehirnwäsche» (vgl. auch hierhierhierhierhier, hier und hier) nicht zur Wehr setzen. Entsprechend durchkämmen sie als Manager die Unternehmen nach noch nicht ausgenutzten Kostensenkungs-, Outsourcing- und Arbeitsverdichtungschancen. Gewinne oder Boni, die zu hoch ausfallen könnten, sind ihnen fremd. Natürlich hat diese Einstellung, die den Absolventen nahe gebracht wird, auch wesentlich zur Weltfinanzkrise beigetragen, nämlich indem damit das offenkundig nur als unverantwortlich zu bezeichnende Zocken auf Wertpapiermärkten legitimatorisch befeuert wurde. Und was fällt der Ökonomik dazu ein? Die Akteure hätten nicht etwa unverantwortlich gehandelt, sondern «irrational». Sie waren also nicht etwa zu gierig, sondern nicht gierig genug. Sie hätten nämlich nur ihr «kurzfristiges» bzw. kurzsichtiges Eigeninteresse im Auge gehabt und ihr «langfristiges» aus den Augen verloren. Dass allein die EU dem Finanzsektor Finanzhilfen und Bürgschaften in Höhe von 4,6 Billionen Euro zur Verfügung gestellt hat, ist den Ökonomen offenbar verborgen geblieben.

Die Ökonomen als Fürsprecher des Marktes

In einem deutschsprachigen «Top-Journal», in dem man offenbar unter seinesgleichen zu sprechen glaubt, hat der Konstanzer Volkswirt Friedrich Breyer, Autor mehrerer VWL-Lehrbücher, Anfang 2008 «die Ökonomen» als die «konsequentesten Fürsprecher des Marktes» charakterisiert. Innerhalb der Ökonomenzunft würden die «wohltuenden Wirkungen» des wettbewerblichen Marktes, der ja schließlich für «Effizienz» sorge, von niemandem mehr «ernsthaft bestritten». Doch würden diese Marktwirkungen «im Rest der Bevölkerung eher skeptisch gesehen». Dass diese daran liegen könnte, dass «der Rest der Bevölkerung» den zunehmenden Wettbewerbsdruck zu spüren bekommt, sich Wachstumsmüdigkeit breit macht und die wachsenden Einkommensdisparitäten zugunsten von Kapital und Management und zulasten der Wettbewerbsverlierer als ungerecht empfunden werden, dies alles kommt dem Fachökonomen nicht in den Sinn.

Für Bachmann ist es keine Frage, dass Wachstum – für Nichteingeweihte: dies versteckt sich hinter dem Begriff «Allokation» – «gesellschaftlich erwünscht» sei. Da er sich aber, um die Wissenschaftlichkeit der VWL zu retten, von den «marktgläubigen Ordoliberalen der alten Schule» abgrenzen möchte, versucht er Unvoreingenommenheit und Wissenschaftlichkeit dadurch zu signalisieren, dass er im Wettbewerb nur ein «mögliches Mittel» zur Herstellung einer «erwünschten Güterverteilung» erblicken möchte. Nur, wer macht hier wen zum Mittel? Dass im Wettbewerb, der unter «idealen Bedingungen», also möglichst ungebremst, abzulaufen habe, Menschen miteinander und vor allem gegeneinander agieren, kommt Bachmann nicht in den Sinn. Ein ethisch neutrales «Mittel» ist der Wettbewerb ganz sicher nicht.

Marktgläubigkeit im Gewand der Wissenschaftlichkeit

Unser Punkt ist: Dies alles ist durch und durch normativ! Die Ökonomik, die sich innerhalb der Wissenschaften etabliert hat, repräsentiert stillschweigend eine ethische Position. Allerdings eine ethisch falsche, da sie sich von vorn herein und ohne jede wissenschaftlich redliche Diskussion der Marktlogik radikal verschrieben hat. (Und der Streit zwischen Mathematikern und sog. Ordoliberalen ist ein Streit innerhalb der Marktgläubigkeit um die innerlich konstequente Auslegung des Ökonomismus.) Mit seiner Einschätzung der eigenen Disziplin, der VWL im Ganzen, liegt Breyer im Wesentlichen ganz richtig. Doch mit welchem Recht macht die VWL die Aufnahme in den Kreis derjenigen, die akademisch ernst zu nehmen sind, von der Akzeptanz einer bestimmten wirtschaftsethischen Position abhängig, nämlich von der Marktapologetik, vom Ökonomismus? Dieser mag auslegungsbedürftig sein und in verschiedenen Varianten auftreten. Doch wer den Begriff der «Rationalität» in Frage stellt oder wer «Effizienz» als oberstes Kriterium der Beurteilung der gesellschaftlichen Verhältnisse zurückweist, wer herausstellt, dass der Wettbewerb nicht etwa einfach dem Wohle aller dient und überdies zur Ökonomisierung der Lebensverhältnisse führt, der gilt als minderbemittelter Außenseiter, der es, in den Worten Bachmanns, «intellektuell mit der modernen VWL nicht aufnehmen» könne.

Die Immunisierungsstrategie, mit der Bachmann aufwartet, funktioniert nicht. Zwar möchte er sich von den «Marktgläubigen» abgrenzen. Doch nicht nur ist Bachmann, bislang jedenfalls, nicht dadurch aufgefallen, dass er etwa das extrem marktgläubige Standardlehrbuch von Greg Mankiw kritisiert hätte – er benutzt es ja selbst. Durch Berechnungen lassen sich die normativen «Prinzipien der Ökonomik» der neoklassischen Standardökonomik ohnehin weder begründen noch kritisieren. Vor allem sind es exakt diese «Prinzipien», die auch den beinhart positivistischen Formelfriedhöfen zugrunde liegen, auf die Bachmann alle, die etwas Fundiertes zu Markt und Wettbewerb zu sagen haben dürfen, verpflichten möchte. In diesen geht es nämlich um nichts anderes als darum zu «erklären», welche Marktmächte sich durchsetzen werden. Und die angebliche «Offenheit» besteht in nichts anderem als darin, dass es eben noch nicht vorentschieden ist, wo genau das Macht-«Gleichgewicht» (S. 181 f., zu verorten ist. (Weshalb der offenbar bezüglich der realen ökonomischen Verhältnisse reichlich blinde Fachökonom die Chuzpe hat, die Kritiker der VWL in Sachen Weltfinanzkrise noch um «etwas Geduld» zu bitten, bis diese «exakt» erklärt sein wird.)

Pluralität statt Dogmatik

Die ökonomistische Voreingenommenheit zugunsten der Marktlogik, die sich hinter mathematischen Formeln bloß versteckt, muss ein Ende haben. Der Dogmatismus, der ihr entspricht, verrät sich nicht nur in der Sprache, die Bachmann wählt. Dogmatisch ist die Position gerade, weil sie sich hinter Formeln versteckt, statt die ethisch-normative Frage, wie das Wirtschaften denn zu beurteilen sei, als solche und unvoreingenommen anzugehen. Es geht hierbei nicht nur darum, dass die absurde Formen annehmende sterile Mathematisierung innerhalb der VWL einer Verschwendung von Forschungsgeldern gleichkommt. Es geht auch nicht einfach darum, die tatsächliche oder vermeintliche «Realitätsferne» der VWL zu überwinden. Es geht vielmehr darum, dass in die akademische Volkswirtschaftslehre – und übrigens auch in die Betriebswirtschaftslehre – endlich wieder eine Pluralität von Sichtweisen Einzug hält. Pluralität oder Dogmatik, das ist die Alternative. Die Wichtigkeit einer solchen Öffnung ergibt sich allgemein daraus, dass das Wissenschaftssystem ein für eine moderne, aufgeklärte Gesellschaft zentraler Ort ist, an dem um die Verbindlichkeit von Sichtweisen gestritten wird – bzw. gestritten werden sollte, und zwar streng argumentativ und in gesitteter und redlicher Weise. Dass die Abkehr vom Dogmatismus gerade im Falle der Wirtschaftswissenschaften von überragender Bedeutung ist, wusste bereits Keynes, indem er darauf verwies, dass die Welt heute von nichts so sehr wie von den Konzepten der Ökonomen bestimmt wird. Diese bilden schließlich die Wirtschaftsprofis in Politik und Wirtschaft aus. Und dass die Welt maßgeblich vom Wirtschaften bestimmt wird, versteht jeder, der wachen Auges durch diese Welt läuft.

Ethische Reflexion des Wirtschaftens dringend erforderlich

Die Öffnung der VWL für andere Sichtweisen, vor allem für solche, die der Marktlogik mit einiger Distanz begegnen, statt diese nur immer wieder zu verteidigen, ist aus dem Inneren der VWL nicht zu erwarten. Dies ist bitter und brisant zugleich, weil man damit in eine Spannung zur Wissenschaftsfreiheit gerät. Der Pluralismus muss den Volkswirten von außen vor die Nase gesetzt werden. Etwa dadurch, dass Quoten für die Etablierung von heterodoxen Lehrmeinungen eingeführt werden. Wir plädieren im Besonderen dafür, dass die kritische Reflexion der normativen Grundlagen der Ökonomik in den Pflichtkanon des Wirtschaftsstudiums aufgenommen wird. Dies durchaus ebenfalls pluralistisch und d.h. auch: ohne dass eine angebliche «Wirtschaftsethik», wie bislang zumeist üblich, nur das noch einmal «ethisch» garniert und bestätigt, was vorher ohnehin in den Lehrbüchern zu lesen war. Dafür muss die Politik einfach Geld in die Hand nehmen, damit solche wirtschaftsethisch ausgerichteten Lehrstühle eingerichtet werden können. Wie wichtig dies ist, sollte angesichts der Bedeutung der großen wirtschaftlichen Fragen, vor denen wir stehen, klar sein. Die Wirtschaft ist zu wichtig, um sie den Ökonomen, wie sie sich heute verstehen, zu überlassen. Und vielleicht können wir dann irgendwann einmal hoffen, dass auch der akademische Mainstream an den Diskussionen redlich teilnimmt.

Nachtrag: Kommentare

Bald wird der Blog eine Kommentarfunktion erhalten. Daher vorher hier manuel einige Kommentare, die uns erreichen.

  • «Der Artikel ist sowas von gut. Der trifft den Mainstream mitten ins Herz. Kein Wunder, dass er nicht veröffentlicht wird. Das Beste, was ich in dieser Debatte gelesen habe.» Ein junger Diplom-Volkswirt
  • «Thielemann: Wie recht er hat! Aber solche Beiträge kommen offenbar nicht in Leitmedien unter. Die einzige Lösung ist, sie übers Internet zu verbreiten mit dem Risiko, dass sie nur von den schon Überzeugten gelesen werden.» Christoph Weber-Berg, Leiter Center for Corporate Social Responsibility der Hochschule für Wirtschaft Zürich, über Facebook
  • «Jedem zu empfehlen, der sich – wie ich – in den Wirtschaftsvorlesungen z.T. in voraufklärerischen Prozessionen wähnte. Wann kommen die Ökonomen endlich zur Vernunft?» Patrick Zanini, über Facebook
  • «Kritikpunkte und Forderungen treffen gleichermaßen die orthodoxe Strömung der Wirtschaftsdidaktik, die die wirtschaftswissenschaftliche Orthodoxie unreflektiert spiegelt und in die Schulen transportiert...» Initiative für eine bessere ökonomische Bildung