31. Oktober 2014
Integrative Wirtschaftsethik

Ulrich Thielemann
Kategorie: Orientierungen

Das Ganze des Wirtschaftens denken, und zwar kritisch

 

Das Institut für Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen feiert sein 25 jähriges Bestehen mit einer Jubiläumsveranstaltung und hat mich dazu zu einem Beitrag gebeten.

Dies gab mir Gelegenheit, meine Version des Ansatzes einer integrativ verstandenen Wirtschaftsethik bzw. das Paradigma einer ethisch-integrierten Ökonomik knapp zu entfalten. 

Hier der Beitrag (Vorsicht: Theorie!), der teilweise etwas experimenteller Natur ist. Hier der Foliensatz. Und hier die Kernaussagen:

 

Die Reduktion von Wirtschaftsethik auf Unternehmensethik bzw. auf Individualethik ist Ideologie, weil sie die übergreifenden Marktinteraktionsverhältnisse und die diesen zugrunde liegende Interaktionslogik («das Ganze des Wirtschaftens») als legitim voraussetzen muss, ohne dies allerdings kritisch klären zu können.

Der wettbewerbliche Markt ist ein Interaktionszusammenhang. Er spielt sich nicht auf dem Mond oder in Modellen ab, sondern zwischen Menschen. Interaktionsverhältnisse haben gerecht zu sein.

Wirtschaftswissenschaften sind unausweichlich und faktisch normativ. Eine integrativ verstandene Wirtschaftsethik mündet darum in eine ethisch-reflexive Ökonomik.

Die Aufgabe der Wirtschaftsethik bzw. einer ethisch-reflexiven Ökonomik besteht darin, unter ethisch gehaltvollen Begriffen zu klären, wie wir uns durch Markt und Wettbewerb ins Verhältnis setzen.

Der Sinn der Erkenntnissuche ist es nicht, «Lösungen» für vorgegebene, als «ethisch» deklarierte «Probleme» zu finden, sondern die Klärung der Probleme selbst und damit die Stärkung unserer Urteilsfähigkeit, und zwar auf mikro- und makroethischem Felde (Beurteilungsethik statt Anwendungsethik).

Der Klärungsbedarf ergibt sich insbesondere daraus, dass die marktlichen Interaktionsverhältnisse durch ihren wettbewerblichen Charakter systemischer bzw. instanzloser Natur und damit schwer zu durchschauen sind.

Auch eine individualethisch ausgerichtete Wirtschaftsethik, die folglich allein in den «externen Effekte» der Marktinteraktion ein Problem erkennen kann, statt in den «internen Effekten» dieser selbst, wird von diesen eingeholt. Sie muss nämlich feststellen, dass es «unter den Bedingungen» des Wettbewerbs für die Handelnden schwierig bis unmöglich ist, die Ausübung von externen Effekten zu unterlassen.

Die «Lösung» dieses Problems durch die Änderung der ordnungspolitischen «Spielregeln» des Wettbewerbs («öko-soziale Marktwirtschaft») krankt zum einen daran, dass die staatlichen Rahmenordnungssetzer selbst unter globalem Wettbewerbsdruck stehen, zum anderen daran, dass Probleme, die mit der zunehmend intensiveren Entfaltung der wettbewerblichen Marktlogik selbst unausweichlich verknüpft sind («interne Effekte»), unthematisiert und unbehandelt bleiben müssen.

Problematisch ist die zunehmend reinere Entfaltung der wettbewerblichen Marktlogik,

  • weil die Intensivierung des Wettbewerbs unausweichlich Gewinner und Verlierer schafft,
  • weil die damit verbunden wachsenden Einkommens- und Vermögensdisparitäten kaum mehr in plausibler Weise als fair bzw. leistungsgerecht zu begreifen sind,
  • weil die damit ebenfalls verbundene Ökonomisierung der Lebens- und Interaktionsverhältnisse (vor allem der individuellen Lebensführung, der Bildung, der Politik und des noch leidlich «eingebetteten» Marktverkehrs selbst) diese korrumpiert und ihre Entfaltungsfreiheit untergräbt.

Die in ihren ethischen Qualitäten auf den Begriff zu bringende Interaktionslogik des wettbewerblichen Marktes ist ahistorisch. Historisch und gestaltbar ist allerdings die Intensität und Extensität, mit der sich die wettbewerbliche Marktlogik entfaltet. Die Frage nach dem Status des Marktes ist eine Frage des Maßes.

Daraus erwächst die Option der Begrenzung der Entfaltung der Marktlogik. Die damit verbundene Idee des Schutzes vor «kolonisatorischen» (Jürgen Habermas) und «korrumpierenden» (Michael Sandel) Eingriffen durch die Marktlogik erstreckt sich nicht nur auf gesellschaftliche Sphären, die außerhalb «der Wirtschaft» verortet werden, sondern auch auf das Wirtschaften als eines Interaktionszusammenhangs selbst, der in Wertgesichtspunkte der Fairness und Sinnhaftigkeit einzubetten ist.

In einer globalisierten Wirtschaft kann die Ökonomisierung aller Lebensverhältnisse nur durch globale wettbewerbliche Waffenstillstandsabkommen aufgehalten werden.

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Englisch hier.