15. Mai 2012
Vernünftiges Wirtschaften ist kein rein ökonomisches Problem!

Peter Ulrich*
Kategorie: Orientierungen

Gastkommentar zum Memorandum «Für eine Erneuerung der Ökonomie»

 

Dem Memorandum «Für eine Erneuerung der Ökonomie» wünsche ich viel Beachtung und Wirkung, vor allem bei den zuständigen bildungspolitischen Instanzen. Was nach der heute gelehrten Standardökonomik neoklassischer Bauart als ökonomisch «rational» gelehrt wird, ist nämlich nicht die ganze Vernunft des Wirtschaftens. Als rational gilt ihr die rücksichtslose Vorteilsmaximierung jedes Einzelnen; für die gesellschaftliche Harmonie sorgt vermeintlich die (von neoliberaler Ordnungspolitik durchzusetzende) «unsichtbare Hand» des «freien» Marktes. Frei sein sollten jedoch vernünftigerweise die Menschen, nicht der Markt. Eine effiziente Wirtschaft ist zwar wichtig, aber nicht Selbstzweck, vielmehr gilt es sie buchstäblich zu zivilisieren, d.h. in eine wohlgeordnete Gesellschaft freier und gleichberechtigter Bürger einzubetten.

Dessen ungeachtet heißt das ordnungspolitische Rezept in der Idealwelt der neoklassischen Ökonomen stets: mehr Markt! Das ist in ihren axiomatischen Grundlagen vorentschieden. Sie wähnt sich dabei «wertfrei» und interessenneutral, unbesehen ihrer oft augenfälligen Parteilichkeit für bestimmte weltanschauliche und politische Positionen. Gleichwohl – oder vielleicht gerade deshalb – wehrt sie in der Regel alle kritische Grundlagenreflexion ab. «Störende» Argumentationen, die von einem anderen Verständnis vernünftigen Wirtschaftens ausgehen, werden ausgegrenzt, mögen die praktischen Folgen der (nicht wirklich) «rein» ökonomischen Weltsicht noch so fragwürdig ausfallen. An gravierenden Symptomen lebenspraktischer Unvernunft – Finanz-, Schulden-, Wirtschafts- und Sozialkrise lassen grüßen – mangelt es nach dreißig Jahren wirtschaftspolitischer Dominanz des neoklassisch fundierten Marktliberalismus («Neoliberalismus») jedenfalls nicht. So gesehen, ist die heute allein noch gelehrte Standardökonomik eher ein ursächlicher Teil der Problemlage als die Basis für ihre wissenschaftlich fundierte und demokratisch legitimierte Bewältigung.

In kaum einer anderen Disziplin dominiert ein einziger Ansatz die akademische Debatte und Lehre so sehr wie in den Wirtschaftswissenschaften. Die nahezu hegemoniale Dominanz der neoklassisch geprägten Standardökonomik ist durch kooptative Berufungsverfahren laufend verstärkt worden; mittlerweile werden abweichende Ansätze, selbst traditionsreiche deutsche Richtungen des Fachs (historische Schule, ordoliberale Schule der Wirtschaftsordnung), in der Lehre weitestgehend negiert. Und in der Forschung werden Nachwuchsleute, die andere Wege zu gehen versuchen, in aller Regel mit dem faktischen Ausschluss von den akademischen Karrierepfaden bestraft. Wer innerhalb der Disziplin vorankommen will, wendet klugerweise die neoklassische Axiomatik nur an und/oder übt höchstens eine gewisse theorieinterne Detailkritik, nicht aber grundlegende Kritik an den identitätsbildenden Grundannahmen der Doktrin. So aber wird kreativitätsfeindlicher akademischer Opportunismus gezüchtet. An den meisten volkswirtschaftlichen Abteilungen – und mehr noch in den akademisch maßgeblichen Journals des Fachs – herrscht inzwischen nahezu eine pensée unique. Man verherrlicht zwar theoretisch den freien Wettbewerb, entzieht sich selbst aber (in einem performativen Selbstwiderspruch) dem argumentativen Wettbewerb freien Denkens.

Demzufolge ist auch die Selbstreflexion des methodologischen Status der Mainstream Economics so sehr zum Erliegen gekommen wie in kaum einer anderen sozialwissenschaftlichen Disziplin. Ganz auf dieser Linie findet die in den letzten zwanzig Jahren beachtlich aufgekommene Wirtschaftsethik in volkswirtschaftlichen Abteilungen oft nur Eingang, soweit sie in Moralökonomik verkehrt wird. Als Begründer des St. Galler Ansatzes der Integrativen Wirtschaftsethik, die mit einer vorbehaltlosen ethisch-kritischen Reflexion der normativen Grundlagen des «normalen» ökonomischen Denkens ansetzt, weiß ich nur zu gut, wovon ich hier rede. Vonseiten dieser grundlagenkritischen Wirtschaftsethik sind die normativen Hintergrundannahmen der Standardökonomik – also ihre implizite Ethik – in den vergangenen Jahren gründlich durchleuchtet worden. Es wurde herausgearbeitet, wie sehr die vermeintlich «reine Ökonomik» in ihrem Kern eine normative Idealtheorie ist, deren implizites Erkenntnisinteresse dasjenige an der universalen Rationalisierung der ganzen Gesellschaft im Sinne ihres spezifisch ökonomischen Rationalitätsprinzips ist. Die sich selbst nicht reflektierende Disziplin arbeitet in ihrem Praxisbezug gewollt oder ungewollt einer uneingeschränkten, undisziplinierten Ökonomisierung der Gesellschaft und des Denkens zu (Ökonomismus).

Was auf dem Hintergrund der neoklassischen Idealtheorie als rationales Wirtschaften gilt, verkörpert jedoch wie gesagt noch keineswegs die ganze Vernunft des Wirtschaftens in einem praktisch-philosophischen Sinn. Das ist der zentrale Grund, weshalb sich die Öffnung des standardökonomischen Elfenbeinturms für wirtschaftsethisch und politisch-philosophisch anders (und möglicherweise besser) fundierte wirtschaftstheoretische Ansätze aufdrängt, damit das Fach in Zukunft weniger zur Verschärfung und mehr zur Bewältigung realer sozialökonomischer Herausforderungen beiträgt. Da diese überfällige wirtschaftsethische und sozialwissenschaftliche Öffnung der Wirtschaftsfakultäten aber aus den erwähnten Gründen zumindest in absehbarer Zeit nicht von innen heraus zu erwarten ist, sind die bildungs- und hochschulpolitischen Behörden gefordert, möglichst rasch mit klaren Vorgaben für einen vermehrten Pluralismus der vertretenen Ansätze in den Wirtschaftsfakultäten zu sorgen.

© 15.05.2012 PU


* Peter Ulrich war 1987-2009 erster Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsethik an der Universität St. Gallen und Gründer des dortigen Instituts für Wirtschaftsethik; zuvor Professor für Betriebswirtschaftslehre mit sozialwissenschaftlicher Ausrichtung an der Universität Wuppertal.