Für eine Erneuerung der Ökonomie

Memorandum besorgter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler*

Berlin, 13. März 2012

Eine Initiative von Ulrich Thielemann, Tanja von Egan-Krieger und Sebastian Thieme

 

Mit der nach wie vor anhaltenden Finanzkrise sind auch die Wirtschaftswissenschaften in eine tief greifende Krise geraten.

  • Selbst etablierte Fachvertreter wie der Direktor des Hamburgischen WeltWirtschaftsInstituts, Prof. Thomas Straubhaar, plädieren für ein «Ende des ökonomischen Imperialismus» und fordern eine grundlegende «Erneuerung der Lehre», das heißt eine Abkehr vom derzeit vorherrschenden Kernparadigma als der einzig legitimen Perspektive der als wissenschaftlich geltenden Thematisierung des Wirtschaftens. Außerhalb des deutschen Wissenschaftsraums ist man in Sachen der Entwicklung eines «New Economic Thinking» und interner Grundlagenkritik weiter, wofür die Namen prominenter Ökonomen wie etwa Joseph E. Stiglitz, Paul Krugman oder Amartya Sen stehen.
  • Einzelne der etablierten Fachvertreter – wie z. B. Dennis Snower, Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft ­– weisen (selbst-) kritisch darauf hin, dass die überwiegende Mehrheit der Volkswirte die Finanzkrise nicht vorausgesehen hat. Im Gegenteil haben sie nach Ansicht vieler Beobachter und auch einiger Fachvertreter die theoretischen Grundlagen für eine krisenverursachende oder -verschärfende Wirtschaftspolitik gelegt. Diese war und ist von der Hypothese der so genannten «Effizienz» der Finanzmärkte getragen sowie von einem Verständnis der «Rationalität» des Handelns, für das der Name Homo oeconomicus steht.
  • Überdies haben Ökonomen nach verbreiteter Ansicht einer als «neoliberal» oder «marktkonform» charakterisierten Politik zugearbeitet, die zu wachsenden Einkommens- und Vermögensdisparitäten geführt hat, worin eine weitere Ursache und Dimension der gegenwärtigen Krise erblickt wird. Vereinzelt scheinen diese Empfehlungen von Ökonomen selbst rückblickend als Fehler beurteilt zu werden.
  • Sozialwissenschaftler anderer Disziplinen und etwa auch Personalverantwortliche von Unternehmen befürchten, dass das Wirtschaftsstudium in seiner heutigen Form einer ethisch fragwürdigen Ökonomisierung des Denkens Vorschub leistet. Dies wird vor allem von der Warte einer dem Gedanken der Aufklärung verpflichteten Wirtschaftsdidaktik als höchst problematisch betrachtet.
  • Studierende fordern, dass ethische Reflexionen zu einem festen Bestandteil und zu einem «roten Faden» des Wirtschaftsstudiums werden sollten, damit Wirtschaftswissenschaftler in der Lage sind, «verantwortlich handeln zu können». Ebenso ruft eine Gruppe Schweizer und französischer Dozierender und Forscher unter dem Titel «Forschung und Lehre in Wirtschaftswissenschaften, Finance und Management sollen erneuert werden mit dem Ziel, dem Allgemeinwohl besser zu dienen» dazu auf, auch die «ethischen Grundlagen» der «herrschenden Lehre in den Wirtschaftswissenschaften» zur Diskussion zu stellen.
  • Bereits seit über zehn Jahren wird vor allem von Studierenden die Realitätsferne der volkswirtschaftlichen Theoriearbeit kritisiert, die durch ihre Mathematisierung vergessen lässt, dass die Wirtschaftswissenschaften nicht den Natur-, sondern den Geistes- und Sozialwissenschaften zuzurechnen sind.
  • Verschiedene Fachvertreter beklagen einen Mangel an wissenschaftlichem Streit, das Fehlen einer Streitkultur, wie sie einst selbstverständlich war.

Diese Fehlentwicklungen innerhalb der Disziplin sind kein rein disziplinäres Problem der Wirtschaftswissenschaften, sondern von übergreifender gesellschaftspolitischer Bedeutung. Denn in einer Gesellschaft, in der ökonomische Rationalitätsmuster immer weitere Lebensbereiche umgreifen und ökonomisieren, bedarf es einer distanzierten Perspektive, die diese Entwicklungen beurteilbar macht. Doch verhindern die sich gegenwärtig festgesetzten Karrieremuster die Ausbildung solcher Perspektiven, so dass sich die wirtschaftswissenschaftliche Disziplin dogmatisch verkapselt hat. Deutliche Zeichen für diesen akademisch unhaltbaren Zustand sind:

  • Ökonomen, die davon berichten, dass sie bedeutsame Forschungsarbeiten unterlassen, da dies «wissenschaftlich keine Rendite» einbrächte;
  • um sich greifende «akademische Prostitution» und Wissenschaftsopportunismus, weil an die Stelle der intrinsischen Orientierung an der Sache des Erkenntnisfortschritts der zu erwartende Publikationserfolg in möglichst hoch klassierten Journals tritt; und
  • Nachwuchswissenschaftler, die davor zurückschrecken, für eine von der vorherrschenden Auffassung abweichende Position öffentlich einzutreten, weil sie um ihre wissenschaftliche Karriere fürchten.

Zu einer Wissenschaft gehört paradigmatische Vielfalt. Derzeit allerdings liegt die als wissenschaftlich anerkannte Thematisierung des Wirtschaftens im exklusiven Zuständigkeitsbereich eines einzigen Paradigmas. Dieses hat sich, in verschiedenen Varianten, der «Fürsprache des Marktes» (Friedrich Breyer) verschrieben. Zwar sind die derzeit vereinzelt zu vernehmenden Vorstöße aus dem Inneren der etablierten Wirtschaftswissenschaften hin zu einer paradigmatischen Öffnung zu begrüßen. Doch sind sie zu schwach, um die für unser aller Leben eminent wichtigen Wirtschaftswissenschaften aus ihrer paradigmatischen Verkapselung zu führen. Dies zeigt auch die geringe Resonanz der disziplinären Fachvertreter auf die zahlreichen Aufrufe zur Öffnung des Fachs, die in jüngerer Zeit sowohl von Seiten engagierter Studierender als auch von Nachwuchswissenschaftlern und Ökonomen, die den paradigmatischen Kern des Mainstreams nicht teilen, zu vernehmen waren. Die paradigmatische Öffnung der Wirtschaftswissenschaften muss daher auch und vor allem von außen angestoßen werden.

Wir, die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner dieses Memorandums, möchten die Ökonomen als unsere Kollegen, als unsere Professoren und Lehrer, als Berater von Politik und Unternehmen und als Intellektuelle des öffentlichen Lebens zu paradigmatischer Offenheit ermuntern. Eingeschlossen ist dabei der Wunsch, andere – von der vorherrschenden Lehre abweichende – Sichtweisen aktiv zu fördern sowie das Interesse an und die Offenheit für die Auseinandersetzung mit diesen Positionen zu zeigen, um letztlich auch wieder eine wissenschaftlich redlich geführte Streitkultur zu ermöglichen. Eine Wissenschaft, die mit der Reflexion ihrer eigenen paradigmatischen, einschließlich ihrer normativen Grundlagen abgeschlossen hat, ist nur mehr der Form nach eine Wissenschaft.

Wir fordern die für die Wahrung der Wissenschaftlichkeit des Hochschulwesens zuständigen Instanzen, wie insbesondere den Wissenschaftsrat, auf, die wissenschaftspolitischen Weichen so zu stellen, dass innerhalb der Wirtschaftswissenschaften wieder eine paradigmatische Pluralität von Sichtweisen Einzug hält. Dazu zählt insbesondere eine deutliche Relativierung bibliometrischer Kriterien für die Bemessung akademischer Forscherkarrieren, da durch diese nicht etwa wissenschaftliche Qualität, sondern die Konformität mit dem vorherrschenden Kernparadigma sichergestellt wird. Wissenschaftlicher Erkenntnisfortschritt ist nicht messbar, sondern letztlich nur substantiell beurteilbar.

Wir fordern die für die Ausrichtung von Curricula zuständigen Instanzen auf, heterodoxe und interdisziplinäre Inhalte in die Lehrpläne aufzunehmen. Hierzu zählt insbesondere auch die Integration von Veranstaltungen, die sich sowohl mit den praktischen Folgen der wirtschaftswissenschaftlichen Theoriebildung als auch mit den paradigmatischen Grundlagen dieser selbst ethisch-kritisch auseinandersetzen.

Wir fordern die Förderer von Wissenschaft und Forschung dazu auf, Vorkehrungen dafür zu treffen, dass bei der Vergabe von Fördermitteln die paradigmatische Pluralität gewahrt und ein perspektivischer Monismus vermieden wird. Hierbei gilt es auch Vorkehrung dafür zu treffen, dass finanzkräftige Interessen die wissenschaftlich als notwendig angezeigte pluralistische Öffnung der Wirtschaftswissenschaften nicht unterlaufen.

Die Wirtschaftswissenschaften gestalten durch ihre Empfehlungen und durch die von ihnen vermittelte Weltsicht das Gesellschaftsleben in vielfacher Weise nachhaltig mit. Ihr Anspruch als eine reife, undogmatische Sozialwissenschaft sollte darin bestehen, der guten und gerechten Ordnung der Gesellschaft dienlich zu sein. Kontroverse, von Redlichkeit und Offenheit getragene Auseinandersetzungen darüber, was dies sowohl grundlegend gesellschaftspolitisch als auch in einzelnen Teilbereichen bedeutet, sollten zu einem selbstverständlichen Bestandteil der wirtschaftswissenschaftlichen Forschung und Lehre werden.


* Aus Gründen der Lesbarkeit verzichten wir im Folgenden auf Doppelbezeichnungen, solange nicht die Unterzeichner und Unterzeichnerinnen selbst gemeint sind.