23. Oktober 2012
Die Ethik des Positivismus II

Ulrich Thielemann
Kategorie: Steuergerechtigkeit, Ökonomismus

Steuergerechtigkeit, Wohnsitzprinzip und Steuernomaden

 

Eine knappe Ergänzung zur «Ethik [bzw. Kritik] des Positivismus». Rüdiger Bachmann hat wieder zugeschlagen (tut er ja fast täglich) und wartet auf meine Antwort. Kann er haben. Zunächst aber eine Vorbemerkung.

An diesem Beispiel wurde mir nochmals klar, wie die «positive» Feststellung von gesellschaftlichen Zuständen und Kräften bzw. Mächten und deren Billigung im Ökonomismus-Positivismus zusammenhängen, weshalb der Ökonomismus ja auf eine Ethik des Rechts des Stärkeren (bzw. der Kräftigeren) hinausläuft. Buchanan nennt es «rationale Erklärung». Mir geht es hier nicht um den Inhalt des Beispiels, nicht ums Wissenschaftssystem, nicht um die Transzendentale Ökonomik, die Bachmann voraussetzt, indem er die Ökonomisierung der Wissenschaften, und zwar sogar in einem engen finanzökonomischen Sinne, einfach so hinnimmt. Sondern darum, dass aus der (faktischen oder übrigens auch aus der hypothetischen) Stärke der einen (dies ist «positiv» feststellbar) auf deren irgendwie höhere Legitimität (dies ist eine ethisch-normative Kategorie) zu schließen sei. Das ethisch Richtige lasse sich also im Wettbewerb, in dem definitionsgemäß die Stärke bzw. die (Markt-)Macht den Ausschlag gibt, «entdecken», weshalb Hayek vom «Wettbewerb als Entdeckungsverfahren» sprach.

Bei Bachmann findet sich das so: Da im «freien Wissenschaftsmarkt USA» Ökonomen (nach anderen) höhere Einkommen als Geisteswissenschaftlern zufließen, sind diese gegenüber jenen nicht als «gleichwertig» zu beurteilen. – Ja, das sagt er tatsächlich. Und da in Deutschland kein «freier Wissenschaftsmarkt», sondern im Wissenschaftssystem folglich Unfreiheit herrsche (Bachmann hat natürlich nicht verstanden, dass Wissenschaftsfreiheit eine positive ist [dies ist nun eine ganz andere Bedeutung von «positiv»]), wird die tatsächliche (ethisch-normative) Wertigkeit der Geisteswissenschaftler finanziell ‚verzerrt‘. Den Begriff verwendet Bachmann nicht, aber er sagt: Die Ökonomen (bzw. all diejenigen, die Verfügungswissen bereitstellen) würden die Geisteswissenschaftler (all jene, die Orientierungswissen vermitteln – man nannte es einmal Aufklärung) «quersubventionieren», denn eigentlich stünden den Ökonomen ein deutlich höheres Einkommen zu. – Wie war das noch? Meinte Bachmann nicht einmal, die Ökonomik, die er als Lehrstuhlinhaber repräsentiert, sei von (ich nehme ja wohl an: paradigmatischer) «Offenheit» geprägt und hätte folglich den Ökonomismus überwunden? – Die Pointe des Ökonomismus ist immer: Das ethisch Richtige wird durch die Marktmachtverhältnisse definiert bzw. umdefiniert.

Das gleiche Denken findet sich in der triumphierenden Feststellung, dass nun, da Hollande Grenzsteuersätze auf Niveaus anvisiert, wie sie in der Nachkriegs- und Wirtschaftswunderzeit gang und gäbe waren, die Superreichen Frankreichs das Land zu verlassen scheinen. Schaut her, «people respond to incentives». Der naturalistische bzw. ökonomistische Fehlschluss besteht darin, daraus zu folgern: Darum muss dies doch irgendwie richtig sein. Dies formuliert Bachmann nicht direkt, sondern indirekt: Wer dies, wie etwa ich, anders sieht, muss die Steuerflüchtlinge als «Verräter [traitors]» bezeichnen. Das kritische Urteil kann also nur das eines partikularistischen Nationalisten sein; die Gegenposition ist, so die Suggestion, ethisch unhaltbar. Mehr noch: wer dies irgendwie falsch findet, spricht einer «Diktatur» das Wort.

Schauen wir kurz in die Sache (zu der bereits knapp hier Stellung genommen wurde; wobei sich meine Kritik weniger auf die potentiellen Steuerflüchtlinge bezog als vielmehr auf Camerons wie ich meine dreiste Einladung zur Steuerflucht). Zunächst: Natürlich ist Auswanderung ein Menschenrecht. Die reichen Franzosen wandern also aus (es gibt Indizien dafür), und insofern wird das Wohnsitzprinzip, welches das elementarste Besteuerungsrecht der jeweiligen Staaten begründet, gar nicht verletzt. So weit, so hinzunehmen. Die Leute wohnen dann eben in England, nutzen dort die öffentlich bereit gestellte Infrastruktur und zahlen dort ihre Steuern gemäß ihrer Leistungsfähigkeit.

Doch Moment, und das ist der erste Einwand: Legitim ist dies nämlich nicht so ohne weiteres, wenn die Staaten die physisch abwandernden Steuerflüchtlinge fiskalisch privilegieren. Dies nennt man «ring fencing» (Privilegierung und Abschottung der einwandernden Steuerflüchtlinge, ohne die eigene Steuerbasis zu gefährden), und dies nimmt in Großbritannien die Form «resident but not domiciled» an; in der Schweiz nennt sich der Trick «Pauschalbesteuerung». Damit wird das Wohnsitzprinzip bestenfalls der Form nach gewahrt.

Zweiter Einwand: Dieser Trick, sehr Wohlhabende ins eigene Land zu locken, die dann dort tatsächlich ihren Lebensmittelpunkt haben, aber kaum Steuern zahlen (aber im Land viel einkaufen, was «Arbeitsplätze schafft»), funktioniert ja nur darum, weil diese Leute ihr Einkommen in der Hauptsache im Ausland erzielen. Ein Umstand, den Bachmann, ebenso wie das ring fencing, vollständig unterschlägt. Diese Anomalie der Inkongruenz von Wohnsitz und Arbeitsort bzw. Ort der Einkommensentstehung findet sich eher selten, etwa bei Grenzgängern (die allerdings in der Regel in ihren Wohnsitzstaaten besteuert werden) – oder eben bei Vermögensrentiers, vor allem bei solchen, die ihren Lebensmittelpunkt ziemlich billig (relativ zu ihrem Reichtum) verlagern können.

Diese erzielen den Hauptteil ihres (Kapital-)Einkommens wie Unternehmen mit mehreren Betriebsstätten. Das nennt man «offshore wealth», definiert als «assets booked in a country where the investor has no legal residence or tax domicile». Der Umfang ist gigantisch, nämlich $ 7,8 Billionen. (Die gigantischen Abschöpfungserfolge sind für Bachmann natürlich ganz unproblematisch, sowohl von der Warte unmittelbarer Leistungsgerechtigkeit als auch mit Blick auf die Ungleichgewichte, die der Kapitalüberschuss repräsentiert – schon mal etwas von der Großen Finanzkrise gehört, die eine Überakkumulationskrise ist? Darum ja ist die Rückkehr zu einer angemessenen Besteuerung des Kapitals so wichtig.)

Da somit große Teile der heute in der Welt erzielten Einkommen unbesteuert oder unterversteuert bleiben, plädieren die Leute vom Tax Justice Network für die Ersetzung des Wohnsitzprinzips durchs Staatsbürgerprinzip (wie es die USA praktizieren). Ich halte dies für systematisch falsch. (Vgl. zur Begründung des Wohnsitzprinzip hier. Man muss auch sehen: ein zwischenstaatliches Bankgeheimnis ist falsch, weil es das Wohnsitzprinzip verletzt und nicht etwa darum, weil die bloß pekuniär statt ad personam abwandernden Steuerflüchtlinge – damit verletzten sie ja das Wohnsitzprinzip – nicht Staatsbürger der jeweiligen Steueroase sind.) Abgesehen davon hilft auch das Staatsbürgerprinzip nur bedingt weiter: Dann nimmt man nötigenfalls eben eine andere Staatsbürgerschaft an. So geschehen bei Eduardo Saverin, der von seinen vielen hundert Dollar-Millionen Windfall-Profits aus dem IPO von Facebook dem US-Staats partout nichts abgeben wollte. Singapur hat ihn mit offenen Armen empfangen.

Vielleicht könnte man die Nomaden des Superreichtums dieser Welt, die einen Wohnsitzwechsel ins steuerprivilegierende Ausland aus der Portokasse finanzieren können, wie Unternehmen besteuern. Dann aber natürlich nach der Methode einer Unitary Taxation, was dazu führte, dass Länder, in denen die jeweiligen Betriebstätten liegen, höhere Einkommenssteueraufkommen haben. Und natürlich müsste die Steuerprivilegierung der wohlhabenden Rentiers ein Ende haben.