Handelszeitung «Top-Ökonomen zerpflücken Thielemann-Manifest»

Von Ulrich Thielemann, 12. April 2012

Mit der offenbar in vielen Medien unvermeidlichen Personalisierung formuliert die Online-Ausgabe der Schweizer Handelszeitung: «Top-Ökonomen zerpflücken Thielemann-Manifest».

Reiner Eichenberger, Professor für Volkswirtschaft an der Universität Freiburg, meint, das Memorandum sei «Verbalgeschwurbel», was ich nicht gerade für einen begrifflich-systematisch präzise formulierten Einwand halte, der wohl die formale und bewusst sparsame Stoßrichtung des Memorandums missverstehen dürfte. (Vgl. zum häufig verkannten Kernanliegen des Memorandums hier.)

Ernst Fehr, Professor für Mikroökonomik an der Universität Zürich, meint, (paradigmatische?) Veränderungen müssten sich durch «erstklassige Publikationen in erstklassigen Fachzeitschriften» vollziehen – und verkennt damit einen der Problemtatbestände, der überhaupt erst zum Memorandum Anlass gab, nämlich das, was sein Kollege Bruno S. Frey (und übrigens nicht wir) «akademische Prostitution» nennt. Diese besteht darin, dass die «Erstklassigkeit», so die These, die das Memorandum etwa von Alan Freeman übernimmt, in der «Konformität mit dem vorherrschenden Kernparadigma» besteht, und zwar ungeachtet der Haltbarkeit dieses Kernparadigmas. 

Gebhard Kirchgässner, Professor für Volkswirtschaftslehre und Ökonometrie an der Universität St. Gallen, hat teilweise Recht, wenn er festhält, dass die Zunft nicht insgesamt marktgläubig ist. Dazu muss ich allerdings etwas weiter ausholen.

M.E. haben wir es derzeit und wohl schon länger mit zwei Auslegungen des Kernparadigmas der Ökonomik zu tun: Einer marktlibertär-neoliberalen und einer positivistischen. Die Vertreter jener Auffassung publizieren Texte statt Formelsammlungen («Modelle») und bezeichnen sich etwa als «Ordoliberale». Ich würde sie letztlich im weiteren Sinne den Austrian Economists zurechnen. Sie treten für das Prinzip Markt bzw. für das Prinzip Wettbewerb in allen Lebenslagen ein. Ein gewisser Streit besteht innerhalb dieser Denkrichtung darüber, ob es einer aktiven Wettbewerbspolitik bedarf oder nicht – damit die Marktlogik bzw. der Wettbewerb überall herrscht. (Vgl. zu den Differenzen Wettbewerb als Gerechtigkeitskonzept, S. 278 ff.; Kurzfassung hier, vgl. S. 2 f.) Dies sind die Ökonomen, die sich und ihre Zunft im Ganzen als die «konsequentesten Fürsprecher des Marktes» (Friedrich Breyer) bzw. des Wettbewerbs verstehen. Gelegentlich wird zwar zugestanden, dass dies alles normativ ist (vgl. etwa Michael Hüther mit Bezug auf Giersch kürzlich hier – ausgerechnet Giersch). Doch tritt an die Stelle einer redlichen Auseinandersetzung über die Rechtfertigungsfähigkeit des Prinzips Markt (Austrians) bzw. des Prinzips Wettbewerb (Neoliberalismus) das dogmatisch- voreingenommene Festhalten an diesen Prinzipien.

Die Krone dieser Entwicklung ist die unter dem Titel «Wirtschaftsethik» betriebene, durch und durch ökonomistische Rechtfertigungstheorie der Logik von Vorteilstausch und Wettbewerb, wie sie in Deutschland von Karl Homann etabliert wurde. (Vgl. die Hinweise hier oder diesen Text.)

Auf der anderen Seite steht die sich selbst als rein «positiv», also als wertfrei wähnende Modell-Ökonomik, die den neueren Methodenstreit bekanntlich gewonnen hat. M.E. fußt dieses Selbstverständnis auf den gleichen normativen (nämlich «neoklassischen») Grundlagen wie das der Austrians (vgl. auch diesen Beitrag; dort übrigens auch eine Erklärung für die Mathematisierung).

Allerdings halte ich auch die rein positivistische Bestimmung des Kernparadigmas für ökonomistisch bzw. marktgläubig. Allerdings bezieht sich diese nicht unbedingt auf die «Fürsprache» des Marktes als dem realen Ort geldvermittelten Tauschs. So kann es auch zu marktkritischen Stellungnahmen kommen, etwa wenn Gebhard Kirchgässner, als ein Vertreter dieses Selbstverständnisses und ein Exponent für dessen methodologische Grundlegung, der Meinung entgegentritt, «dass man Wettbewerb grundsätzlich nicht beschränken darf» (vgl. hier); oder gar die Behauptung, dass es durch eine «Öffnung der Märkte» «langfristig allen besser» gehe, als «falsch und/oder zynisch» klassiert (vgl. hier). – Diese Stellungnahmen sind für einen etablierten Ökonomen gewiss ungewöhnlich. Doch sind sie mit dem positivistischen Paradigma vereinbar – sie haben mit diesem nämlich gar nichts zu tun. Im Selbstverständnis Kirchgässners dürfte er sich hier als Bürger, nicht als Fachökonom äußern.

Der Ökonomismus bzw. der «Glaube» an den Markt im übergreifenden Sinne als Ort des Zusammenspiels eigeninteressierten Handelns zeigt sich in der positivistischen Auslegung der ökonomischen Kernparadigmas darin, dass die «Modelle» den systematischen Sinn haben, die Marktmachverhältnisse («die Empirie») projektiv abzubilden. In dieser, nach eigenem Selbstvertändnis möglichst «exakten» Abbildung «der Realität» zum Zwecke der Prognose steckt allerdings auch eine Legitimierung der Marktmachtverhältnisse – die einfach als «der Fall seiend» dargestellt werden – was sich als ökonomistisch klassieren lässt. Ökonomik wird dann zur Feststellung der «Kontraproduktivität» von Aspirationen oder «Präferenzen» individueller oder politischer Art, die den Marktkräften entgegenstehen. Man denke an die Mindestlohndebatte. Dafür steht etwa der «Sachzwangpapst» Hans-Werner Sinn, der wohl beide Lager vereinen dürfte. Kirchgässner selbst scheint im Aufzeigen der «Konsequenzen» normativer Geltungsansprüche (etwa: die Leute sollen anständig vergütet werden) mit Blick auf deren «Realisierbarkeit», «Umsetzbarkeit» oder eben "Kontraproduktivität" gar die letzte noch verbleibende Möglichkeit der Bestimmung des Identitätsprinzips einer sich als «positiv»  (miss-) verstehenden Ökonomik zu erblicken. Vgl. Kirchgässner (2003: 117 f., 136), (2004: 2 f., 25 f.).

[Nachtrag, 16. April 2012: In gleicher Weise plädiert Yvan Lengwiler für einen Wandel weg von der plumpten Markthuldigung hin zum Kontraproduktivitätsparadigma von Ökonomik: «Der Konsens unter den Ökonomen ist nicht, dass "der Markt alles richtet" [denn es gibt ja Marktversagen], sondern dass Menschen auf Anreize reagieren — die meisten auch auf finanzielle Anreize.» Und so bestehe die eigentliche (und übrigens logisch nicht verallgemeinerungsfähige) Aufgabe der Ökonomen darin, gegenüber ihren Adressaten aufzuzueigen, «dass eine neue [gesetzliche] Vorschrift [oder welche Aspiration auch immer] immer zu einer [höchstwahrscheinlich "kontraproduktiven"] Ausweichbewegung der von ihr Betroffenen führen wird», und zwar um so mehr, wie kynisch zu ergänzen wäre, die Botschaft «Vernünftig ist, was rentiert» (Max Frisch) von eben diesen Ökonomen verbreitet wird. Dies ist der Wechsel vom expliziten zum impliziten Ökonomismus. Vgl. grundlegend philosophisch hier und hier, mit Blick auf die Vwl hier, konzeptionell hier (Abschnitt 1.2) und hier (S. 160)]

Doch geht der Ökonomismus weiter. Die positivistischen Projektionen («Modelle») hypothetischer «Fakten»- bzw. «tatsächlicher» Machtzusammenhänge (natürlich spricht man nicht von Macht) erfordert die Wahrnehmung der handelnden Akteure allein in ihren Wirkungseigenschaften bzw. als Wirkungen erzeugende Akteure, und dies lässt sich fassen: als Homines oeconomici. Darum verteidigt Kirchgässner in seinem gleichnamigen Hauptwerk den Homo oeconmicus (1991) bzw. «Nutzenmaximierung» als eine generelle Verhaltensannahme, die den «ökonomischen Ansatz» kennzeichne, wobei dies als «rationales» Handeln klassiert wird. (Vgl. im Einzelnen Wettbewerb als Gerechtigkeitskonzept, Kapitel II; Kurzfassung hier.) Ohne hier die genaueren Zusammenhänge nachzeichnen zu können mit Blick auf eine innerlich konsequente Auslegung des Sinns des Homo oeconomicus, wird damit dessen Durchsetzungsrationalität als Perspektive verbindlicher («rationaler») Handlungsorientierung vermittelt, was als Ökonomisierung des Denkens zu fassen ist. Dies ist ebenfalls als «marktgläubig» bzw. ökonomistisch einzuordnen, da hier das «Prinzip Markt» gerechtfertigt wird.  

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass für beide Auslegungen oder Varianten des ökonomischen bzw. ökonomistischen Kernparadigmas die Begriffe «Rationalität» und «Effizienz» grundlegend sind, wobei «instrumentelle Vernunft» (Max Horkheimer) als Inbegriff von «Rationalität» gilt (dieses Verständnis wird übrigens auch von der Verhaltensökonomik nicht in Frage gestellt; darum ist sie in ihrem Selbstverständnis eben eine «ökonomische» Theorie) und «Effizienz» als das oberste Beurteilungskriterium der – letztlich nicht nur wirtschaftlichen – Interaktionsverhältnisse fungiert (vgl. zu den Auslegungsvarianten hier). Und beide sprechen in diesem Sinne vom «ökonomischen Standpunkt» und von sich als «den Ökonomen.» Wer diese normativen Gesichtspunkte, die das etablierte Kernparadigma definieren, in Frage stellt, hat praktisch keine Chance, in einem Journal, zumal in einem «erstklassigen» (Fehr), zu publizieren.